“Passiver Standard ist verantwortungslos!”

Orthopädieschuhmachermeister Rainer Rauch sieht gesamte Branche in Gefahr

Rainer Rauch, Inhaber der Firma Seidl Orthopädieschuhtechnik in Regensburg, warnt die Kollegen vor einer massiven Existenzbedrohung der Branche. Mit der Entwicklung eines aktiven, sensodynamischen Einlagenkonzepts hat er für sein Geschäft eine stabile Zukunftsperspektive geschaffen. Warum er zehn Jahre harte Entwicklungsarbeit gerne mit Kollegen teilt, erzählt er im Interview.

Herr Rauch, Sie sagen: Für die Orthopädietechnik-Branche ist es fünf vor 12. Was genau meinen Sie damit?

Rainer Rauch: Unsere Branche ist kurz davor, sich selbst abzuschaffen. Das klingt hart, ist aber eine Tatsache. Die Orthopädieschuhtechnik und -schuhmacherei hat sich darauf eingelassen, ihre Kunden mit standardisierten Einlagensystemen aus der Industrie zu versorgen.

Was spricht dagegen, das zu tun?

Rauch: Wir haben mit diesem Schritt genau die Kompetenz aufgegeben, die uns auf dem Markt einzigartig macht: die handwerkliche Fertigung von Individualeinlagen nach Kundenmaßen. Das können nämlich nur wir.

Aber worin genau besteht die Existenzgefährdung der Branche?

Rauch: Wenn wir die einzigen wären, die mit diesen Standardprodukten den Kunden versorgen, würde ich mir keine Sorgen um die Existenz unserer Branche machen. Bisher hat der Arzt ja den Einlagenkunden trotzdem zu uns geschickt. Aber die Standardisierung hat dazu geführt, dass wir zunehmend außen vor gelassen werden. Ärzte und Physiotherapeuten werden mit eigenen “Einlagenkonzepten” immer häufiger selbst zum Versorger. Der Patient geht mit einem Fußproblem zum Orthopäden und der zieht eine fertige Einlage aus der Schublade. Im Extremfall gehen die Leute mit Fußproblemen nicht einmal mehr zum Arzt, sondern kaufen sich eine Fertigeinlage aus dem Katalog. Bei uns kommt dieser Kunde erst gar nicht an. Das aber gefährdet nicht nur unsere Branche, sondern auch die Gesundheit des Kunden, für die wir meiner Meinung nach eine besondere Verantwortung haben.

Sie meinen, nur die Orthopädieschuhtechnik kann dem Patienten effektiv bei Fußproblemen helfen?

Rauch: Eine optimale medizinische Versorgung besteht immer aus einem funktionierenden Netzwerk von Arzt, Physiotherapeut und Orthopädieschuhtechniker, das möchte ich betonen. Aber unsere Branche spielt eine entscheidende Rolle bei der zeitgemäßen Einlagenversorgung und kann noch viel mehr tun als Fußprobleme zu lösen. Wir sind die einzigen, die eine individuelle Einlagenversorgung direkt am Kundenfuß handwerklich qualitativ hochwertig ausführen können. Ich gehe sogar noch weiter: Standardisierte passive Einlagensysteme, die nicht individuell an den Patientenfuß angepasst sind, machen das Fußproblem zwar für den Patienten kurzzeitig erträglicher, aber sie lösen es nicht. Die passive Standardversorgung schadet auf Dauer dem ganzen Körper und gefährdet Lebensqualität. Standard und passiv – diese Kombination ist dem Patienten gegenüber verantwortungslos.

Das sind deutliche Worte. Können Sie das auch medizinisch belegen?

Rauch: Das lässt sich sogar ganz einfach medizinisch belegen. Jeder Physiotherapeut und jeder Orthopäde wird Ihnen bestätigen, dass der Fuß als Basis des Körpers die gesamte Körperstatik beeinflusst. Und jeder Orthopädieschuhmacher weiß, dass Fußdeformationen grundsätzlich mit einem Abkippen des Fersenbeins verbunden sind. Besonders klar lassen sich die Folgen am extrem verbreiteten Knickfuß zeigen. Kippt das Fersenbein ab, verändert sich automatisch die statische Beinsäule. In einer Kettenreaktion von unten nach oben verschiebt sich das gesamte Skelett. Die Beine gehen in X, die Hüfte dreht sich ein und das Iliosakralgelenk blockiert. Ein dynamischer Bewegungsablauf ist gar nicht mehr möglich. Gleichzeitig wird in jedem Gelenk der Gelenkspalt verändert, es entsteht punktuell erhöhter Druck, es kommt zu Schmerzen und vorzeitiger Knorpelabnutzung, am Ende zu Arthrose. Wenn man bedenkt, dass rund 80 Prozent aller Erwachsenen an einem Knickfuß leiden, ist das ein enormes Gefährdungspotenzial, das wir als Orthopädieschuhmacher und Orthopädietechniker beeinflussen können – negativ oder eben positiv!

Das klingt, als müssten 80 Prozent der Erwachsenen völlig schief und mit schlimmen Beschwerden herumlaufen ...

Rauch: Das perfide an dieser fußbedingten Verschiebung der Körperstatik ist: Im Zusammenspiel von Skelett, Muskeln, Bändern und Nerven entstehen Ausgleichsbewegungen und eine Kompensation, die dem Zentralen Nervensystem vorspiegelt, die Körperstatik wäre korrekt abgespeichert. Gleichzeitig laufen aber die beschriebenen Schädigungsprozesse in den Gelenken ab und zwar so schleichend, dass man es mitunter Jahrzehnte nicht bemerkt. Sobald Schmerzen in den Gelenken auftreten, liegt aber schon eine Schädigung vor!

Aber was kann ausgerechnet unsere Branche dagegen unternehmen?

Rauch: Sie kann individuell handwerklich gefertigte Einlagen herstellen, die aktiv in die Körperstatik eingreifen. Wenn man das Fersenbein aufrichtet, wird über die statische Beinsäule die komplette Körperstatik neu geordnet und korrigiert. Auch jetzt sorgen Skelett, Muskeln und Sehnen dafür, dass diese neue Situation im Zentralen Nervensystem als Bewegungsmuster abgespeichert wird – nur eben auf einer gesunden Basis. Als Folge wird der Gelenkspalt in allem Gelenken neutralisiert, Druck lässt nach, weitere Abnutzung wird verhindert. Weil aber jeder Mensch unterschiedliche Statikprobleme hat, kann man diesen Prozess nicht mit einer fertigen Standardeinlage einleiten! Hier kommt wieder die ganz spezielle Kompetenz unserer Branche zum Tragen. Wir können handwerklich Einlagen fertigen, die nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern sogar von Fuß zu Fuß individuell sein müssen.

Die logische Folge Ihrer Sichtweise wäre, dass die Orthopädietechnikbranche nicht mehr nur den Fuß, sondern den ganzen Menschen in Betracht ziehen muss. Haben wir diese Kompetenz denn auch?

Rauch: Wir haben schon seit Jahrzehnten die Kompetenz über den anatomischen Aufbau und die Funktionsweise des Fußes. Was wir lediglich zusätzlich brauchen, ist die Logik der vom Fuß ausgehenden Entwicklung der Körperstatik. Und das ist schnell erlernbar. Wer bisher schon Individualeinlagen gefertigt hat, palpiert den Fuß genau, um Art und Grad der Fußdeformation festzulegen. Ein Fußabdruck gehört auch schon immer zu unseren Untersuchungsmethoden. Was ich zusätzlich fordere ist, sich die Körperstatik des ganzen Menschen anzusehen – im Stand und auf der Gehstrecke. Diese Untersuchungsergebnisse lassen sich auch ohne teures technisches Equipment eruieren.

Aber wenn man diese Untersuchungsergebnisse hat, muss man auch das Personal und die Technik einsetzen, um mit diesen Daten die von Ihnen geforderte Individualeinlage herzustellen. Viele Kollegen aus der Branche können diese Investitionen aber nicht aus dem Stand aufbringen.

Rauch: Das ist auch gar nicht nötig. Wir haben in den letzten gut zehn Jahren enorm viel Entwicklungsarbeit investiert, um das sensodynamische Einlagenkonzept Sensoped zu entwickeln. Nachdem wir bereits tausende von Kunden erfolgreich mit diesem Aktiv-Konzept versorgt haben und den Erfolg sahen, haben wir unsere Entwicklungsarbeit für die Branche zugänglich gemacht. Das Ergebnis unseres Weges hin zum Sensoped-Konzept ist ein modernes CAD-Fräscenter, in dem wir mit Hilfe der Kundendaten unserer Branchenkollegen schnell und unkompliziert Individualeinlagen herstellen. Die können sogar nicht nur optimal an den Kundenfuß angepasst, sondern auch individuell in den Kundenschuh eingeschliffen geliefert werden. Alles was der Orthopädieschuhmacher, der das Fräscenter nutzen möchte, tun muss, ist eine möglichst genaue Untersuchung des Patienten hinsichtlich Fußproblem und Statiksituation. Das geht, wie bereits gesagt, mit einer einfachen Gehstrecke. Wenn ein Kollege noch exakter untersuchen möchte, bieten wir mit dem StaticView-System ein leistbares Equipment, das sogar dem Patienten die Wirkungsweise der Aktivversorgung deutlich macht. Außerdem bieten wir AGOS-zertifizierte Schulungen zum Sensoped-Versorgungskonzept.

Warum wollen Sie diese Erkenntnisse denn überhaupt mit anderen Vertretern der Branche teilen?

Rauch: Weil wir trotz aller Innovationen als Orthopädieschuhtechnikbetrieb mit mehr als acht Jahrzehnten Tradition genau wissen, wo wir herkommen: aus dem Handwerk. Und die handwerkliche Kompetenz der orthopädischen Versorgung lässt sich nur auf Dauer retten, wenn diejenigen in der Branche, die sich bereits weiterentwickelt haben, möglichst viele Kollegen mit Handwerkskompetenz in die Zukunft mitnehmen.


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